Die Frau in der Prostitution

Du bist schön,

meine Schwester!

Du bist schön, so schön! Deine Augen sind faszinierend, sie strahlen und sind doch so unendlich traurig. Ich spüre diese Trauer und werde selber traurig. Was sagen sie mir? Ich denke nach. Jetzt sehe ich dein Herz und muss lächeln. Da sehe ich ein junges Mädchen, ein Kind. Ich sehe deine Unschuld. Ich sehe deine vielen Träume und so viel Energie. Ich sehe deine Stärke, deine Entschlossenheit und deinen Mut zu kämpfen. In deinen Augen darf ich dich sehen und Du berührst mein Herz!

Diese Worte sind poetisch, entsprechen aber der Wahrheit. Wenn wir in die Bordelle, Studios, Nightclubs und zu den Frauen auf die Straße gehen, begegnen wir ihnen auf Augenhöhe. Das heißt, wir treffen eine Frau, eine Schwester, eine Person. Wir fühlen uns solidarisch mit der Frau. Ihre Geschichte, die wir nicht immer kennen, aber irgendwie spüren, berührt uns.

Wir stellten eine Reihe Fragen an 63 NGOs (Non-Government Organisations = Nicht-Regierungs Organisationen) in 18 Ländern, um mehr über die Prostitution und die Arbeit unter Prostituierten zu erfahren. Diese Untersuchung brachte deutliche Ergebnisse, besonders was die Herkunftsländer der Betroffenen betrifft. Im europäischen Durchschnitt bilden Rumäninnen bei weitem die größte Gruppe, gefolgt von Frauen aus Nigeria, aus Bulgarien, und die Ungarinnen bilden die viertgrößte Gruppe. In einigen Ländern kommt es vor, dass eine Nationalität häufiger aufscheint, wie zum Beispiel in Österreich im Falle von den stark vertretenen Chinesinnen, die in anderen Ländern viel seltener zu finden sind.

Gemäß einiger Experten ist Rumänien schon seit einigen Jahren Europas Drehscheibe für den Sexhandel. Was bedeutet das für ein Land wie Rumänien? Hat das eine Bedeutung für die vielen rumänischen Kirchen in Westeuropa, also in just den Ländern, in denen Rumäninnen in der Prostitution ausgebeutet werden? Sollten diese Kirchen nicht den Auftrag irgendwie annehmen, denen, die ausgebeutet werden, zur Seite zu stehen? Unsere Vision ist es, dass rumänische Kirchen für die Zeit, die eine Frau in einem Schutzhaus (dh, ohne Verdienst) verbringt, eine Patenschaft für die Familie der Frau im Herkunftsland übernimmt. Darüber gibt es bereits mit verschiedenen Kirchen Gespräche.

Europaweit beträgt der durchschnittliche Anteil von Frauen in der Prostitution, die Kinder haben, laut unserer Studie 58%.

In Rumänien wachsen viele Kinder ohne ihre Eltern auf, weil diese im Ausland arbeiten. Man spricht von Migrationswaisen. Ein Experte sagt Folgendes dazu:

….der eigentliche Schaden kommt durch die fehlende emotionale Sicherheit in den Kindern zustande – sie wissen weder wann, noch für wie lange, ihre Eltern vielleicht wieder in ihr Leben treten.

In fast allen Fällen ist es so, dass die junge Mutter Alleinversorgerin ist. In patriarchalischen Gesellschaften ist es nicht üblich, dass eine Frau vor Gericht ihre Rechte einfordert. Dies führt dazu, dass es letztendlich die Frau ist, die die finanzielle Verantwortung für die ganze Familie trägt. Nachdem wir tausende Mütter in dieser Situation getroffen haben, wissen wir leider von keinem einzigen Fall, wo der Vater Alimente zahlt.
In solchen Familien sehen wir immer wieder ein sich permanent weiter ausbreitendes Phänomen: die Verweiblichung von Armut. Davon wird gesprochen, wenn ein Haushalt von einer Frau ohne Unterstützung eines männlichen Verdieners geführt wird.

Kindergeld oder Sozialhilfe sind traurigerweise in vielen Ländern entweder gar nicht, oder nicht ausreichend, vorhanden. Diese Hilfe von offizieller Seite ist also den Frauen oft verwehrt. Auch familiäre Hilfe gibt es nicht, wenn Eltern selber arbeitslos oder krank sind.

”But the real harm is the lack of emotional security in the children – not knowing when their parents might reappear, and for how long.” Thorpe, 2014
https://www.un.org/womenwatch/daw/followup/session/presskit/fs1.htm, UN Women

Viele Frauen, die in der Prostitution arbeiten, kommen aus kollektiven Gesellschaften. Diese charakterisieren sich dadurch, dass sich das Wohlbefinden des Individuums dem Wohlbefinden der Familie – und das heißt oft der erweiterten Familie – unterordnen muss. Das Individuum, in dem Fall die Frau, die in der Prostitution arbeitet, opfert sich für das Wohlergehen der Kinder oder der ganzen Familie auf. Hier ist deutlich zu erkennen, wie Prostitution eigentlich eine Auswirkung von patriarchalen Gesellschaftsstrukturen ist. Die niedrige gesellschaftliche Stellung aller Frauen wird dadurch zementiert und wird zu einer weiteren Form von Gewalt gegen Frauen.
Prostitution hat allzu oft sehr wenig mit der freien Wahl eines Menschen zu tun. Man kann nicht von einer freien Wahl sprechen, wenn nur Prostitution als Alternative geboten ist, um nicht in Armut zu verkümmern. Wir haben viele Geschichten gehört, wie die einer jungen Frau, die eines Abends weinend vor uns stand. Sie muss in der Prostitution arbeiten, um das Geld für die Behandlung ihrer krebskranken Mutter aufzubringen.
Hinzu kommt, dass viele Frauen betrogen wurden. Ihnen wurde ein guter Job in Westeuropa versprochen. Oder man sagte ihnen, dass sie nur ganz kurz in der Prostitution arbeiten müssten. Viele schämen sich dann, weil sie auf Menschen reingefallen sind, die sie betrogen haben, oder weil sie eine falsche Entscheidung getroffen haben. Aber das ändert nichts daran, dass die Familien weiterhin ihre finanzielle Unterstützung nötig haben. Also machen sie weiter.

In Einzelgesprächen stellte eine Mitarbeiterin einigen Frauen die Frage, wie sie das aushalten, jeden Tag mit so vielen Männern zu schlafen. Alle Befragten sagten: Ich schalte alles unterhalb meines Kopfes aus, ich denke nur an das Geld.
Solche Dissoziation ist eine Überlebensstrategie. Sie hilft ihnen, weiterzuarbeiten und sie nimmt verschiedene Formen an. Zum Beispiel: „Prostitution“ nennen sie ihre Arbeit. Durch diese Bezeichnung kommt etwas Distanz auf. Viele von ihnen benutzen auch einen Arbeitsnamen. (Wir freuen uns immer sehr, wenn eine Frau uns ihren richtigen Namen nennt.) Eine Arbeit wie jede andere ist Prostitution aber nicht. Aus diesem Grund ist es uns auch unmöglich, die Frauen einfach als Sexarbeiterinnen zu beschreiben. Prostitution ist keine Arbeit wie jede andere, weil sie oft mit Machtausübung, Grenzüberschreitung und Gewalt zu tun hat. Für Prostituierte gibt es keine Arbeitsrechte, keine geregelten Urlaubs- oder Arbeitszeiten – viele arbeiten ja rund um die Uhr – und eine Vorsorge für eine spätere Rente kommt nicht vor. Es gibt keinen gesetzlichen Schutz für schwangere Prostituierten. Viele Frauen sagen uns: „Ich bin kaputt, mein Herz ist kaputt, da ist nichts mehr.“ Untersuchungen bestätigen, dass bei Frauen in der Prostitution sehr oft die posttraumatische Belastungsstörung festgestellt wird.

Wir stehen vor einer Tür in einem Bordell. An der Tür hängt ein Zettel, und was wir dort lesen, wie diese Frau sich präsentiert und was sie anbietet, raubt selbst uns – die wir einiges gewohnt sind – fast den Atem. Wir erwarten also eine abgebrühte, selbstbewusste Frau, die fest im Leben steht und die weiß, wie sie mit Männern umgeht. Gespannt klopfen wir an, und stehen dann vor einer kleinen, süßen, etwas schüchtern wirkenden jungen Frau. Wir lächeln sie an und stellen ihr unser Angebot vor, hoffen, dass sie ein wenig davon spürt, wie wir sie sehen. Sie liegt uns am Herzen. Was ist in ihrem Leben passiert? Wer benutzt sie da für seine Zwecke? Wie ist sie an diesen Punkt gekommen? So viele Fragen ohne Antworten, aber wir kommen wieder und hoffen, dass sich auch ihr Leben zum Positiven ändern wird.

Die Frauen werden von Kunden, von der Gesellschaft, von vorbeifahrenden Autos mit vulgären Ausdrücken beschimpft und erniedrigt. Wir dagegen möchten jeder einzelnen Mut machen, ihr sagen, wie schön sie ist und dass ihr Leben einen Wert hat. Wir möchten sie an ihre Träume erinnern, die tief verborgen in ihr schlummern. Wir möchten sie ermutigen, neu zu hoffen und Neues zu wagen. Wir möchten ihr zur Seite stehen und ihr sagen: „Du bist kein Opfer – du bist eine Überlebende!“